Meine Großeltern waren jung und idealistisch. Sie hatten auch in der Türkei Arbeit und meine Eltern würden auch jetzt noch in der Türkei Arbeit finden. Geld. Wohlstand. Zumindest so viel Wohlstand, wie hier. Möglicherweise sogar mehr. Die 40 Jahre, die meine junge Großfamilie in Deutschland lebt besteht größtenteils aus 30 Jahren Armut und Arbeit.
Wir sind nie in den Urlaub gefahren. Wir sind nie in ein Restaurant gegangen oder ins Kino. Nein, wir hatten auch nie viel Platz zum wohnen. Wie so viele Menschen in Deutschland.
Die letzten 10 Jahre, die wir hier in Wohlstand leben, hat sich meine Familie hart erkämpft. Meine Geschwister sind jünger als ich, sie kennen den Wert von 50 Cent nicht, mit denen ich mir am Wochenende ein Laugenweckle kaufen durfte. Sie haben von Deutschland profitiert. Davon, dass ihre Eltern hier die Chance hatten sich hochzukämpfen, eine Chance auf Bildung und Rechte. Viele, viele Rechte. Denn das ist Deutschland, wie man es sich vorstellt. Deutschland, wie wir es kennen wollten und kennen lernten. Eine Wahlheimat mit intellektuellen, ethischen und moralischen Werten.
Und jetzt lerne ich Deutschland von einer neuen Seite kennen.
Ein Deutschland mit Doppelstandards. Ein Deutschland, das immer dreister grundgesetzliche Schranken ignoriert und angebliche Freiheit vorgaukelt. Ein Deutschland, das sich hinter den Kulissen abspielt. Seine Bürger nicht beteiligen lässt. Das Grundbedürfnis nach Sicherheit jedes menschlichen Lebewesens ausnutzt, um eigene Vorteile tiefer und tiefer einzumauern in einen Boden, der immer weiter in sich zusammenfällt. Ein Deutschland mit ausgehöhlten Idealen.
Als ich klein war, gab es in der Türkei kaum verschiedene Schokoladensorten und Nutella nur zum Wucherpreis. Mittlerweile essen die Leute Zartbitterriegel mit grünen Pistazien als Snack zwischendurch. Meine Familie ist nicht wegen der Schokoladenauswahl hier her gekommen. Nicht wegen Geld oder Wohlstand. Meine Großeltern kommen aus dem zentralanatolischen Gebirge. Sie hatten eine große Familie mit viel Arbeit, viel Vieh, viel Land, viel Sonne, guter Luft, aber wenig Freiheit. Sie würden das heute wahrscheinlich leugnen. Jeder in meiner Familie würde das leugnen.
Aber warum lässt man alles zurück und geht in die ungewisse Fremde? Um Jahrelang in einer Fabrik zu arbeiten und mit 7 Leuten auf 40 Quadratmetern zu leben? Nein! Sondern für die Aussicht auf Freiheit, Gerechtigkeit, Bildung und Rechtschaffenheit.
Und dann wachse ich hier auf. Lerne Deutschland lieben. Lese in der Oberstufe grad noch Michael Kohlhaas von Heinrich von Kleist. Ein Mann der sich gegen Korruption und Ungerechtigkeit wehrte. Diskutiere nach staatlichem Lehrplan in der Klasse die Bedeutung von Rechtschaffenheit, Rechtsstaatlichkeit, Gleichheit, Gerechtigkeit und Freiheit..und bin dann grad mal zwei Jahre in der Erwachsenenwelt, um die Pressemitteilung eines Gerichts zu lesen in der gerechtfertigt wird Staatsbürgern den Pass zu entziehen.
Ich setzte noch einmal neu an: Es wird gerechtfertigt Staatsbürgern – ohne Beweise – den Pass zu entziehen.
Aber das könnten Terroristen sein?
Aber auch du könntest ein Terrorist sein. Wenn man nicht mehr beweisen muss, dass du ein Terrorist bist, um dich wie jemanden zu behandeln, der ein Terrorist sein könnte, kann man jeden behandeln, als könnte er ein Terrorist sein.
Das ist eine Welt, in der Schein mehr zählt als Sein. Und das ist auch Deutschland.
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