In der Türkei haben fast alle Beamten gar keinen Bart, alle anderen haben einen Schnurrbart und die weisen Männer einen Vollbart.
Mein Papa hat einen Vollbart. Nicht weil er besonders weise ist, sondern weil unser Prophet auch einen Vollbart hatte und mein Papa seine Lebensweise nachahmen möchte, um sich ihm nahe zu fühlen. Man nennt das „der Sunnah folgen“.
Viele Muslime sind aufgrund von Überlieferungen der Meinung, dass das Bart tragen für muslimische Männer ebenso Pflicht ist, wie das Kopftuch tragen für muslimische Frauen.
Meine Lehrerinnen fanden es immer sehr schlimm, dass mein Papa einen Bart hat. Sie haben mich immer bemitleidet und waren jedem Aufklärungsversuch zu Trotz fest überzeugt, dass er sehr fundamentalistisch ist und ich als hilfloses, kleines Mädchen darunter leide. Merkwürdig. In der neunten Klasse hat meine Mathelehrerin mir gesagt: „Ich wusste nicht, dass dein Vater Akademiker ist, Merve. Ich kann nicht verstehen, warum ein gebildeter Mensch nicht auf ein gepflegtes Äußeres wert legt. Vollbärte sehen so barbarisch aus.“
Ich dachte, diese Demütigungen hätten ein Ende, wenn ich mein kleinkariertes Dorf verlasse. Leider scheinen aber auch viele Menschen in größeren Städten wenig weltoffen zu sein. Eine Kommilitonin, die sich bei einem Besuch meines Vaters mit ihm unterhalten hatte, meinte einige Zeit später zu anderen Kommilitonen, die mich fragten, ob ich auch von meinem Vater unterdrückt wurde, weil das irgendwie so üblich sei bei Kopftuchträgerinnen: „Ihr Vater ist eigentlich ziemlich „bro“-mäßig drauf, aber er sieht wirklich genauso aus, wie ein richtiger Terrorist.“
Es gibt für uns mit dem Vollbart meines Vaters Schwierigkeiten beim Aus- und Einreisen in die Schweiz, am Flughafen, wenn wir in den FAMILIEN*-Urlaub fliegen, bei Polizeikontrollen, bei der Immobiliensuche, usw.
Zudem besteht der Großteil seines Mandantenstammes aus Muslimen. Nein, eigentlich ausschließlich aus Muslimen. Das liegt keineswegs daran, dass er keine nichtmuslimischen Mandanen duldet. Woran liegt es dann? Die Antwort darauf möchte ich nicht laut denken.
Vollbärte sind doch derzeit im Trend. Naja, wenn man südländisch aussieht wohl nicht so sehr.
Schade.
Mervy Kay
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* Ich stelle mir einen möglichen Gedankengang des Sicherheitspersonals so vor: Oh, ein Mann mit einem Bart. Sieht gefährlich aus. Naja, er lächelt freundlich. Ach, das schauen wir uns mal genauer an. Hm, deutscher Pass. Oh, Geburtsort auch in Deutschland? Hat auch einen schwäbischen Akzent. Was will der denn in der Türkei? Der führt doch was im Schilde. Ah, seine Frau ist türkische Staatsangehörige. Aha, die Familie wollen sie also besuchen, interessant. Komisch, dass die Frau gar nicht so fundamentalistisch aussieht. Gepiept hat auch nichts. Den nehmen wir trotzdem mal in die genauere Kontrolle. So der Kollege kümmert sich. Die Familie kann hier warten. Den Pass gebe ich mal auch dem Scanner. Gut passt alles und jetzt weint auch noch die Kleine. Huiuiui, fünf Kinder. Der hätte ja seine Familie daheim gelassen, wenn was wäre. Dann lassen wir sie mal weiter, wenn nichts ist. Aber Sicherheit geht vor. Die Koffer bitte nach hinten und kontrollieren. Gut, jetzt kann man alles wieder einpacken und auch einen Brief rein legen, dass wir die Koffer öffnen mussten. Dann wissen sie auch bescheid. Schön, dann hätten wir das auch überstanden. Huh. Alles in Ordnung – hoffen wir mal.
Das habe ich schon so oft gedacht. Diesmal frage ich mich jedoch, woher ich meinen Sinn für Gerechtigkeit habe.
Was ist nicht fair?
Wenn das ein Spiel war, war es dann nicht eines dieser Spiele ohne Regeln oder zumindest eins, wo man die Regeln bricht?
Beim Spielen bin ich bereit alles zu opfern und wer das nicht ernst nimmt, spielt nicht hart genug. Es gibt Menschen, die bei „Mensch-ärgere-dich-nicht!“ extrasuperdubberlieb das andere Männchen laufen lassen, damit das Männchen des Gegners nicht sterben muss. Wie warmherzig! Es ist eben nicht einfach einen würdigen Spielpartner zu finden, mit dem das Spielen Spaß macht. Ein gutes Spiel ist ein hartes Spiel. Aber ein hartes Spiel kann man nicht gewinnen. Es geht immer weiter und findet kein Ende, weil keiner verlieren will. Weil keiner verlieren kann. Wer verliert, fühlt sich ungerecht behandelt.
Nach einer philosophischen Theorie, hat jeder Mensch einen mehr oder weniger angeborenen Sinn für Unfairness, die einem selber widerfährt. Das ist aber etwas ganz anderes, als ein Sinn für Fairness. Ein Sinn für Fairness heißt, die gleichen Spielregeln auch für jemand anderes gelten zu lassen, selbst wenn es einem selber nicht passt.
Ich scheine das als Kind nicht gelernt zu haben. Wenn ich verliere, will ich Revanche. Ich denke, ich hätte nicht hart genug gespielt. Nicht gepokert. Meine Karten zu offen auf den Tisch gelegt. Nicht gewagt genug gespielt. Nein!
Das Leben spielt immer mit einem, aber man muss nicht immer gewinnen. Manchmal ist es sogar besser, zu verlieren. Man muss lernen würdevoll verlieren zu können. Das ist schwer. Das ist Arbeit. Das ist Verantwortung. Aber es ist wichtig das zu lernen. Es ist wichtig loslassen zu können. Aufgeben zu können. Keine Angst zu haben, das alles umsonst war. Sonst verliert man mehr als man kann. Sonst verliert man zu viel.
Wichtige, große Politiker können manchmal auch nicht loslassen. Sie spielen blind weiter und das ist nicht ehrlich. Ich fange mal bei den kleinen Dingen an und versuche loszulassen, was ich nicht halten kann. Ich möchte ehrlich zu mir selbst sein. Ehrliche Fairness!