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Ausnahmezustand – Ein Wort beschreibt das Jahr 2016

Scheiße. Ich bin kein Mensch, der viel oder überhaupt flucht, aber momentan weiß ich nicht, was ich anderes sagen soll.

Seit ich denken kann, begegne ich Terror, Gewalt und Krieg nur mit Resignation. Als Paris betrauert wurde, fühlte ich nichts. Als Ankara betrauert wurde, fühle ich nichts. Wenn ich in den Nachrichten oder auf Facebook von Toten irgendwo auf der Welt höre, fühle ich nichts. Nicht, weil sie mir egal sind, sondern weil ich nicht mit einer Situation umgehen kann, auf die ich nie vorbereitet wurde – nämlich, dass auch ich oder Menschen, die mir etwas bedeuten, von einem anderen Menschen absichtlich getötet werden können.

Ich weiß, dass jeder Mensch einmal sterben muss. Aber wir warten doch alle darauf, dass wir von einem Auto überfahren werden oder dass wir einen Anruf bekommen, dass Oma nicht mehr aufgewacht ist. Und ich bin sogar darauf vorbereitet, dass ich erfahren könnte, dass jemand, den ich kannte und mochte, sich selbst mit einem Kabel im Treppenhaus aufgehängt hat. Ist es nicht schrecklich, dass ich auf solche schrecklichen Situationen vorbereitet bin? Aber das muss ich sein, weil ich gelernt habe, dass Menschen in meinem Umfeld auf verschiedenste Arten sterben können.

Was ich nie gelernt habe: Terror. Krieg. Chaos.

Als ich in der fünften Klasse war, durfte ich meine Englisch-Vokabeln nicht vernachlässigen. Meine Mutter wollte, dass ich gut Englisch sprechen kann, falls wir mal fliehen müssen. Menschen aus unserem Bekanntenkreis haben den Jugoslawien-Krieg hautnah mitbekommen. Verständlich, dass meine Mutter nach den heftigen Vergewaltigungs-, Kriegslager- und Fluchtstories ihrer Freunde so eine Angst hat. Als ich das in der Schule erzählt habe, wurde ich von meinen Mitschülern ausgelacht und meine Englisch-Lehrerin reagierte aufgebracht:

„Ich weiß nicht, wo deine Mutter herkommt, aber es wird hier nie Krieg geben! Oder wünscht sich das deine Mutter etwa?“

Nein. Natürlich tut sie das nicht. Wer könnte sich so etwas Schreckliches wünschen? Erst vor kurzem war der Jahrestag des Massakers von Srebrenica. Mitten in Europa – und es ist noch gar nicht so lange her – tausende Menschen wurden getötet. Und ich verdränge weiter.

Ich lebte, wurde erwachsen und wurde geprägt von einer Gesellschaft, die die Eventualität eines Lebens in Chaos nicht zulässt.

Warum? Ja, das frage ich mich heute am 22. Juli 2016. Bis heute Mittag war mein Leben noch so normal. Ich habe eine Zusage für eine Uni bekommen. In meiner Schulzeit und bis heute habe ich beschlossen, dass es gut ist Englisch sprechen zu können, damit ich in fremden Ländern Urlaub machen kann und Bücher von Autoren fremder Länder lesen kann – nicht wegen Krieg. Aber der Kalte Krieg ist noch gar nicht so lange her. Nicht einmal der zweite Weltkrieg ist lange her. Überall auf der Welt gab es seitdem immer wieder Krieg und Terror. Gab es überhaupt jemals auf der Welt richtigen Frieden? Vielleicht als die Menschen noch andere Feinde hatten als Menschen? Vielleicht als die Natur noch unser Feind war?

Brauchen wir einen gemeinsamen Feind, damit wir Menschen uns nicht gegenseitig töten?

Warum war Krieg so lange so weit weg von uns? Ich hab immer wieder Fotos von Kriegsofpern aus Palästina gesehen, aus Afghanistan, aus dem Irak. Ich war zwar erst in der ersten Klasse als sich der Anschlag auf die World Trade Center ereignete, aber auch den habe ich mitbekommen. Und meine Grundschullehrerin fragte mich damals:

„Merve, ich hab das Gefühl du trauerst nicht um die Opfer des Terroranschlags. Liegt das daran, dass die Täter Muslime waren?“

Nein, verdammt. Nein! Ich habe mitbekommen, dass meine Kindergartenfreundin Dorontina zurück nach Bosnien musste, als der Krieg in Bosnien vorbei war. Aber es hat sich für mich nicht so angefühlt, als hätte es dort jemals Krieg gegeben. Ich war zu jung, um Krieg zu verstehen. Ich wusste nicht, was das bedeutet.

Für mich war Krieg, wenn bei Herr der Ringe Menschen und Hobbits und Elfen hässlich aussehenden Viechern mit Schwertern den Kopf abschlagen.

Und dann kam der Krieg in unsere Nähe. In die Ukraine. Den arabischen Frühling haben wir quasi fast überstanden. Jedenfalls hören wir nichts mehr davon. Der Krieg in Syrien berührte uns erst richtig, als die ersten Flüchtlinge hier bei uns ankamen. Und ich kann immer noch nicht verstehen, was Krieg bedeutet. Für mich ist das immer noch Herr der Ringe. Uns wurde das in der Schule nicht beigebracht. Wir haben das schlichtweg nicht gelernt.

Wir brauchen das Schulfach: Der richtige Umgang mit von Menschenhand geschaffenem Chaos.

Dann kamen die Anschläge. Eins. Anschlag in Paris. Zwei. Ankara. Drei. Vier. Fünf. Baghdad. Dhaka. Zwölf. Dreizehn. Wieder Opfer in Frankreich. Opfer in der Türkei. In Belgien. Dann – für mich unfassbar – in Medina? Ein Anschlag auf die heilige Moschee? Und wisst ihr was mein erster Gedanke war?

„Das, liebes Saudi-Arabien hast du davon, du heuchlerisches Miststück.“

Saudi-Arabien ist für mich ein Land, das meiner Meinung nach die Verantwortung hat, die heiligen Stätte der Muslime zu beschützen. Den Islam zu beschützen und die Muslime zu beschützen. Der Welt etwas gutes zu Geben und die beste Marketing-Aktion ever aufzuziehen, um die für mich beste Religion der Welt so zu zeigen, wie ich sie sehe. Und wenn ich sie nicht so sehen würde, wäre ich keine Muslima. Aber was tun sie?

Sie versklaven Menschen, kaufen Panzer, schauen regungslos zu, wie unser Glauben von einem Scheißhaufen von Leuten, die sich „Islamischer Staat“ nennen missbraucht wird.

Anstatt gezielter Aufklärung und gezielter Terrorbekämpfung, stiften sie kostenlose Datteln und Korane an deutsche Moscheen und kaufen sich weiter teure Autos und bauen sich große Hochhäuser mit Ski-Hallen inmitten einer beschissenen Wüste.

Ich bin so wütend, aber immer noch regt sich in mir nichts. Der Putschversuch in der Türkei – ein Tag vor der Hochzeit meiner Cousine, die in Ankara lebt – da wo die komplette Familie meiner Mutter lebt. Nichts. Resignation. Ich kann mit diesem Chaos in der Welt nicht umgehen. Ja verdammt, die Probleme in meinem eigenen Leben reichen mir doch schon!

Anschläge auf Moscheen in Deutschland. Hunderte, tausende brennende Moscheen. Flüchtlingsheime. Die Silvesternacht. Chaos. Was passiert hier eigentlich mit dieser Welt? War diese Welt schon so als ich sie bekommen habe? Bin ich Schuld an diesem Chaos, weil ich einfach nichts dagegen tue? Nicht einmal einen Facebook-Post, dass mir alle Toten und alle Begrabschten Leid tun?

Und jetzt das? Tote in einer Bahn in Würzburg. Tote in einem Einkaufszentrum in München. Eine ganze Stadt steht unter Schock. Ein Land. Ich weiß nicht, was die im Ausland gerade denken. Wir wissen nicht einmal, was es mit diesem Amoklauf auf sich hat. War das die Antifa? Waren es besorgte Bürger? Muslime? Spielt das eine Rolle? Was wäre besser?

Es ist direkt neben uns und wir wissen absolut nicht, was da passiert. Wir wissen nicht, warum es passiert ist.

Wie viele das getan haben. Wie viele verletzt sind. Doch eines ist klar: Das Chaos vor dem ich so große Angst habe, das ich seit Jahren versuche zu verdrängen, es ist mitten hier angekommen und ich kann es nicht einmal mehr ignorieren! Und endlich spüre ich etwas: Verantwortung!

Scheiße man, in 60 Jahren werden wir uns fragen müssen, warum wir nichts getan haben. Ob wir nicht hätten etwas verändern können. Etwas verhindern können. Und meine Lebensrealität ist leider nicht so einfach gestrickt, dass ich mich darauf verlassen kann, dass ein Vollidiot namens Donald Trump mit hässlichen Haaren meine Welt wieder in Ordnung bringen kann.

Es ist grad einfach wichtig irgendetwas zu tun, um das Schlimmste zu verhindern. Ich weiß nicht, was das ist. Aber ich werde es herausfinden. Denn ich kann mich einfach nicht mehr nur noch auf meine persönlichen Probleme fixieren. Wir müssen einfach die Augen offen halten und versuchen den Hass zu vernichten. Wir müssen diese verdammte Unlogik vernichten, dass Menschen denken können, sie können einfach so andere Menschen töten und das könnte irgendetwas bringen. Das ist einfach so unnormal. Wie kann man andere Menschen töten wollen, obwohl man sicher weiß, dass diese Menschen weder dein eigenes Leben bedrohen, dir deinen Ehemann ausgespannt haben, dich mit einem Kind sitzen gelassen oder dir dein Haus abgebrannt haben! Ich entschuldige mich an dieser Stelle für die vielen Flüche und Schimpfwörter in diesem Blogeintrag. Dies ist ein Ausnahmezustand.

Was auch immer heute in München passiert ist. Bitte hört nicht auf gute Menschen zu sein. Und wenn ihr es noch nicht seid, dann bitte, bitte werdet gute Menschen und lasst uns versuchen diese Welt lebenswert zu erhalten. Etwas, was mir heute Abend etwas Trost gespendet hat und euch vielleicht auch Trost spenden könnte: Die ganzen unglaublich vielen Tweets unter dem Hashtag #offenetuer, die den Menschen, die nicht mehr nach Hause kommen in dem Chaos einen Schlafplatz anbieten. Danke dafür. Was zwar selbstverständlich ist, mich aber auch glücklich macht ist, dass die Münchner Moscheen die ganze Nacht offen bleiben, um den Schlafplatzlosen Zuflucht zu bieten. Und irgendwie ist mir auch die Münchner Polizei sympatisch, die einfach ihre Arbeit macht und versucht cool zu bleiben, soweit das die Umstände zulassen.

Das wird eine lange Nacht. Mal sehen, was der Morgen bringt!

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