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Ein Tweet und seine Geschichte

In der aktuellen Ausgabe des Nachrichtenmagazins DER SPIEGEL ist diese Woche ein Artikel mit mir erschienen. Fiona Ehlers, die Redakteurin, die mich interviewt hat, benutzt selber gar kein Twitter. Sie hat eine Meldung in der Welt oder im Tagesspiegel gesehen, sagte sie mir und wollte der Geschichte hinter dieser Meldung auf den Grund gehen.

Ich habe schon mit den unterschiedlichsten Medien etwas zu tun gehabt – ob vor oder hinter der Schreibfeder oder Kamera. Die Arbeitsweise dieser Journalistin hat mich im Hintergrund dieser Erfahrungen wirklich beeindruckt. Sie ist mich besuchen gekommen und hat einen ganzen Tag mit mir verbracht, um mich und die kleine Geschichte hinter einer kleinen Meldung kennenzulernen. Ich habe mit ihr nicht nur über mich, sondern auch über ihre Arbeit, ihre Reisen in muslimische Länder und den Journalismus gesprochen, über das Frau sein in der Berufswelt, den Islam und Deutschland.

Hier unten findet ihr erstmal den Artikel und wenn es euch interessiert, schreibe ich auch gerne mal mehr über meine Erfahrungen mit Journalisten, dem „selber was mit Medien machen“ und meinen Uni-Wechsel. Viel Spaß beim Lesen. Und kommentieren nicht vergessen!

Der Spiegel

„Ein atemloser Montagmorgen Mitte Januar, um 6.30 Uhr klingelte ihr Wecker, um 7.30 Uhr saß sie in der S-Bahn Richtung Universität, ihre erste Vorlesung begann um 8.15 Uhr. Um 8.19 Uhr jedoch saß die Deutschtürkin Merve Kayikci, 22 Jahre alt, immer noch in der Bahn über ihrem Handy und setzte den ersten Tweet des Tages ab. Er hatte 137 Zeichen, sie tippte ihn mit zittriger Hand, nachdem sie sich etwas beruhigt und tief Luft geholt hatte. Er lief unter ihrem Twitternamen @primamuslima, nie zuvor bekam sie so viele Reaktionen.

Zur Vorlesung über Web Development an der Hochschule der Medien kam Merve viel zu spät, was ungünstig war. Andererseits erlebte sie eine Lehrstunde über Zivilcourage und Fake News. Mehr als ihr die Professoren hätten beibringen können, eigentlich war sie recht zufrieden mit diesem Tag.

Merve Kayikci ist eine aufgeweckte junge Frau, sie lebt mit Eltern und vier jüngeren Geschwistern in Korntal-Münchingen bei Stuttgart, Heimat der evangelischen Brüdergemeinde, einst „Rom des Pietismus“ genannt. Merve wird oft gefragt, wie sie es mit der Religion halte. Kummer mit dem Glauben ist sie gewohnt.

Merve steht im Stuttgarter S-Bahnhof Schwabstraße und erzählt, was hier passierte an jenem Montag im Januar, als sie sich mal wieder in ihre Heimat und die Deutschen verliebte. Sie ist Muslimin, seit der fünften Klasse trägt sie den Hidschab. Merves Mutter stammt aus der Türkei, ihr Vater ist Anwalt, dessen Eltern wiederum als Gastarbeiter aus Anatolien kamen. Merve hat die doppelte Staatsbürgerschaft, sie findet, „der Islam gehört zu Deutschland, ebenso wie ich“.

Sie hat einen Blog, der heißt auch primamuslima, in dem schreibt sie klug und humorvoll über den Unterschied zwischen Islam und Islamismus, über Vorurteile und wie man sich gegen sie wehrt. Dass sie verbohrt sei in ihrem Glauben, kann man ihr nicht vorwerfen. Sie sagt: „Meine Oma entsprach dem Klischee einer Türkin, die war Putzfrau und wischte Böden. Ich hingegen will in den Köpfen der Menschen aufräumen.“

Merve ist oft rebellisch, eine moderne, feministische Muslimin, so sagt sie es selbst. Ihre konservativen Eltern haben es nicht immer leicht mit ihr, sie sagt, nach dem Studium wolle sie vielleicht was mit Öffentlichkeitsarbeit machen. Als Leitmotiv ihres Blog hat sie die Zitrone gewählt „weil Zitronen frisch sind und exotisch, und trotzdem gehören sie hierher“.

Merve Kayikci, die mutige Muslimin, war also spät dran an jenem Montagmorgen, es hatte eine Streckensperrung gegeben, sie wartete auf ihren Anschlusszug, ihre Vorlesung sollte in wenigen Minuten beginnen. Plötzlich hörte sie das Wort „Bombenlegerin“ hinter sich.

Sie ist Pöbeleien gewohnt, meist reagiert sie nicht. Das, sagt sie, habe sie von deutschen Passanten in der S-Bahn gelernt. „Die glotzen aus dem Fenster, wenn was ist.“ Wegglotzen, weghören, bloß nicht einmischen. So kennt es Merve, wenn wieder mal einer ihr Kopftuch als Kriegserklärung versteht und sie beschimpft.

Doch diesmal drehte sie sich um. Vor ihr stand eine Frau mittleren Alters, lilafarbene Strickmütze, gepflegt. „Sprechen Sie mit mir?“, fragte Merve und bereute es sofort.

Natürlich sprach die Frau mit ihr, der Redeschwall war laut und wüst. Sie sagte zu Merve, dass es „ihre Leute“ seien, die Deutschland zerstörten. Dass das ihre Leute gewesen seien bei dem Anschlag in Berlin. Dass 90 Prozent aller Muslime von Hartz IV lebten, also von Deutschen durchgefüttert würden, nicht von Allah. Wo er denn sei, ihr Gott?

Merve verlor kein Wort über ihren Glauben, der ihr Halt gibt und Zuversicht, über Oma, die Putze, Opa, den Fabrikarbeiter, die Deutschland mitaufgebaut und nie einen Cent Arbeitslosenhilfe beansprucht hatten, wie angewurzelt stand sie da.

Diesmal aber war sie nicht allein, diesmal gab es Menschen, die sie verteidigten. Ob sie das ernst meinte, fragte eine Frau mit Koffer. Und ein junger Mann zog die Kopfhörer aus den Ohren und fragte die Frau, was dieses Mädchen für den Anschlag könne? „Menschen, die so etwas tun, sind genauso wie Sie, voller Hass!“

„Völlig Fremde standen auf für mich“, sagt Merve und kann es bis heute nicht fassen. „Wo sind die nur all die Jahre gewesen?“

Dann kam ihre Bahn, sie sprang hinein und versäumte, sich bei ihren Fürsprechern zu bedanken, was sie bis heute bedauert. Stattdessen twitterte sie, 137 Zeichen: „S-Bahn ist ausgefallen, da kommt noch ’ne Frau und beschimpft mich als Bombenlegerin. Sieben fremde Leute stehen auf und verteidigen mich!“

Zur Uni kam sie viel zu spät, den ganzen Tag vibrierte ihr Handy. Über 2000-mal wird ihr Tweet geliked und 400-mal geteilt. Die meisten sind stolz auf diese stolze Muslimin, aber es gibt auch Menschen, die glauben ihr die Geschichte nicht. Die schrieben, dass Merve wohl keine Bombenlegerin sei, aber Bombenleger unterstütze und lüge, um sich wichtigzumachen. Merve machte das, was sie immer macht in solchen Fällen, sie blockierte die gröbsten Spinner. Das kann man bei Twitter. Im Leben kann man das nicht.“